Professorin Gabriele Abels von der Eberhard Karls Universität in Tübingen im Gespräch mit Caroline Ausserer über die Erfolge und Misserfolge der EU als gleichstellungs- und geschlechterpolitischen Akteurin.
Caroline Ausserer: Ist die EU eine gleichstellungs- und geschlechterpolitische Akteurin?
Professor Gabriele Abels: In ihrer Selbstdarstellung, ihrem Selbstverständnis und im internationalen Vergleich ist sie das auf jeden Fall. Gleichwohl würde ich darauf hinweisen, dass es noch Lücken gibt und durchaus mehr getan werden könnte. Zweifelsohne sind in den letzen 30-40 Jahren wichtige Signale gesendet und wichtige Maßnahmen ergriffen worden. Insofern würde ich insgesamt durchaus zu einer positiven Einschätzung kommen.
Auf welche Lücke würden Sie hinweisen? Welche Erfolge oder Misserfolge gab es in den letzten Jahren?
G.A.: Die Gleichstellungspolitik der EU muss immer ökonomisch begründet werden. Dies ist eine zentrale „Lücke“ und hängt damit zusammen, dass das Binnenmarktprojekt das zentrale Projekt der ökonomischen Integration ist. Das ist in vieler Hinsicht ausgeweitet worden und es wurde zunehmend realisiert: wenn man Frauen gleichermaßen in den Arbeitsmarkt integrieren will und erwirken will, dass sie nicht diskriminiert werden, dann muss man die Vereinbarkeit von Privatem und Beruf, von Familie und Beruf berücksichtigen. Da sind wichtige Ansätze geschaffen worden, v.a. in den Anfangsjahren mit den Maßnahmen der rechtlichen Gleichstellung: Integration in die sozialen Sicherungssysteme, Gleichstellung von Teilzeitbeschäftigten usw. Zugleich hat es damit auch immer seine Grenzen und zeigt, wie schwierig es ist, dass die EU auch in weitere Bereiche vordringt. So gab es in den letzten Jahren durchaus Erfolge, z.B. das Thema Gewalt gegen Frauen stärker zu thematisieren. Doch selbst da zeigt sich eine Ambivalenz: es musste argumentiert werden, dass Gewalt gegen Frauen, Diskriminierung am Arbeitsplatz, sexuelle Belästigung usw. ein Problem darstellt, das einen höheren Krankenstand und damit auch ökonomische Folgekosten mit sich bringt. Damit ist aber das Problem der häuslichen Gewalt nicht erfasst. Das ist es erst langsam dazu gekommen. Ein Erfolg war, dass man den Bereich Frauenhandel mit rein genommen hat, und der Bereich der Zusammenarbeit zwischen Justiz und Polizei ausgebaut worden ist. Zugleich muss man auch sehen: seit 1957 gibt es den Lohngleichheitsartikel in den Verträgen, er ist seit 1958 in Kraft. Trotzdem haben wir heute in den meisten Mitgliedsstaaten, auch in Deutschland, eine gravierende Gehaltsdifferenz zwischen Frauen- und Männerlöhnen, die sich zwar durch unterschiedlichen Lebens- und Berufsverläufe, aber zum Teil immer noch schlichtweg aus einer unterschiedlichen Bewertung von Frauen- und Männerarbeit ergibt. Das heißt, es braucht mehr sichtbare und vor allem rechtliche Maßnahmen der Kommission dazu, der Equal Pay Day ist lange nicht genug.
Was sind Ihrer Meinung nach die wichtigsten Herausforderungen der nächsten fünf Jahre?
G.A.: Ein riesiges Problem ist die Bearbeitung der Schuldenkrise. In vielen Staaten haben wir gesehen, dass die Effekte ambivalent sind. In den Krisenstaaten gibt es massiven Rückbau von sozialstaatlichen Strukturen, auch im öffentlichen Bereich und das trifft vielfach Frauen. Im Krankenpflegebereich, den Verwaltungen, im Schulwesen usw. gab es Entlassungen und das trifft es in hohem Maße Frauen, weil es Sektoren mit vielen Frauenarbeitsplätzen sind. Aus ersten Studien weiss man, dass die Krise vielfach auf den ersten Blick nicht geschlechtsspezifisch wirkt, auf der anderen Seite indirekt aber doch. So werden Frauen beispielsweise in manchen Bereichen zu den Familienernährerinnen und da ist es natürlich ein Problem, wenn Frauenlöhne strukturell sowieso niedriger sind als Männerlöhne. Ich würde mir mehr Maßnahmen wünschen, aktiver auf die Mitgliedsstaaten hinzuwirken, dem Lohngleichheitsgebot zu einem größeren Nachdruck zu verhelfen. Damit würde sich z.B. auch dem Problem der Altersarmut gerade bei Frauen besser gegensteuern lassen.
Inwiefern werden Gendermaßnahmen bei Strukturmaßnahmen der EU mit einbezogen?
G.A.: In der gesamten Krisenpolitik ist Gender Mainstreaming völlig zu kurz gekommen, obwohl es ein zentrales Prinzip der Politikentwicklung auf EU-Ebene darstellt. Aber auch da gibt es Studien, die sagen, dass das Prinzip in manchen Bereichen gut angekommen ist (z.B. in der Forschungsförderung) und in anderen noch gar nicht. Gerade in der Krisenpolitik ist es jedoch zu kurz gekommen. Es wäre eine Aufforderung, dies systematisch auch in diesem Bereich einzubeziehen. Es gibt sicher viele Grenzen von Gender Mainstreaming, aber die Potentiale sind auch in der Krisenpolitik längst nicht ausgeschöpft.
Könnten Sie dazu bitte ein Beispiel nennen?
G.A.: Man muss schauen, ob die Maßnahmen, die im Bereich der Austeritätspolitik verhängt worden sind, geschlechtsspezifisch wirken, z.B. Rentenpolitiken oder die Senkung von Löhnen. Dann hätte man entsprechend differenzieren müssen, beispielsweise indem man sagt, Geringverdiener sind in hohem Maße davon betroffen und Geringverdiener sind in höherem Maße Frauen. Da müsste man differenziertere politische Maßnahmen entwickeln, damit auch jene, die von den Krisenpolitiken nicht so betroffen sind, die Lasten mittragen. Dies sind häufig jene mit hohem Einkommen, das sind wiederum in der Regel Männer, da sich unter den Spitzenverdienern wenig Frauen finden. Die sozialen Lasten der Krise sind ungleichmäßig verteilt.
Wie schätzen Sie den Ausgang der nächsten Wahl ein? Welche möglichen Konsequenzen hat die Zusammensetzung des Europaparlaments für eine erfolgreiche Gleichstellungs- und Geschlechterpolitik der EU?
G.A.: Es gibt Prognosen in zahlreichen Ländern, dass die konservativen oder explizit rechtspopulistischen Kräfte dazu gewinnen werden. Wenn sich diese Prognosen in entsprechende Wahlerfolge umsetzen werden, ist damit zu rechnen, dass die Fraktionen im Europäischen Parlament an Gewicht gewinnen werden, die traditionell Gleichstellungspolitik gegenüber nicht so positiv gesinnt sind. Im Europäischen Parlament wurde immer wieder darüber diskutiert, ob der FEMM-Ausschuss (Ausschuss für die Rechte der Frauen und die Gleichstellung der Geschlechter) noch sinnvoll ist oder ob er nicht überholt sei im Zeitalter von Gender Mainstreaming. Doch es wurde glücklicherweise entschieden, dass es diesen Ausschuss weiterhin geben soll. Man hat aber in den letzten Jahren gesehen, dass die Debatten im Ausschuss schärfer geworden sind. Das hängt u.a. damit zusammen, dass nach der Osterweiterung viele Staaten dazugekommen sind, die ein anderes Verständnis von Gleichstellungspolitik haben. Da gibt es Konflikte zwischen den gleichstellungspolitisch orientierten nordischen Staaten und den in dieser Hinsicht konservativeren osteuropäischen Staaten. Das hat historisch nachvollziehbare Gründe. Doch wenn nun außerdem noch Kräfte der politischen Rechten dazukommen, dann wird es schwieriger werden gleichstellungspolitische Aktivitäten im Parlament durchzubringen. Die Widerstände werden größer. Wobei es im Parlament immer sehr breite große Koalitionen gibt, dies wird sich sicher nochmals verstärken, wenn der rechts- oder linkspopulistische Rand größer wird.
Welche Befürchtungen haben Sie diesbezüglich?
G.A.: Es wird schwieriger sein, von Seiten des Europäischen Parlaments Initiativen selber auf den Weg zu bringen. Das Europäische Parlament hat ja das Recht eigene Schwerpunkte zu setzen, es hat das Recht, die Kommission aufzufordern in bestimmten Bereichen auch mit rechtlichen Maßnahmen tätig zu werden. Es wird natürlich auch viel davon abhängen, wie die Kommission zusammengesetzt ist. Gleichstellungspolitik rechtlich abzusichern wird auf größere Widerstände treffen. Die Rechtsentwicklung in dem Bereich ist ohnehin sehr erlahmt, man kann in den letzten Jahren feststellen, dass mehr über weiches Steuerungsmittel versucht wird Einfluss zunehmen, das sogenannte „soft law“, d.h. über Kooperationen und Austausch zwischen den Mitgliedsländern und deren Verwaltungen im Rahmen der offenen Koordinierungsmethode. Die Schaffung von Europarecht, das individuell einklagbar ist, hat in der Gleichstellungspolitik stark abgenommen, dazu gibt es kaum Initiativen. Die letzte dazu war der Versuch die Quote für Aufsichtsräte einzuführen. Deren Zukunft ist ungewiss und es gab breiten Protest dagegen. Ich denke, dass sich der Protest halten wird, auch wenn sich die Haltung der deutschen Bundesregierung dazu geändert hat. Der Widerstand aus zahlreichen Mitgliedsstaaten ist groß.
Abschließendes Resumée: Welche Zukunft sehen Sie für die Gleichstellungs- und Geschlechterpolitik in Europa?
G.A.: Der Impetus, den es über viele Jahre gab, ist erlahmt. Wenn sich die Wahlergebnisse so ergeben, wie es derzeit aussieht, sehe ich nicht, dass von der EU viele neue Impulse kommen, Gleichstellungs- und Geschlechterpolitik stärker voranzutreiben.
Liegt dann die Aufgabe mehr an der Zivilgesellschaft?
G.A.: Zivilgesellschaft wäre eine Möglichkeit, z.B. die Europäische Frauenlobby stärker einzubringen. Ich schlage jedoch vor, mehr den Weg über den Europäischen Gerichtshof zu nutzen. Anfang der 70er Jahre war es wichtig, die Grenzen des EU-Rechts auszutesten. Ich finde, es wäre wesentlich, die rechtlichen Grenzen gerade im Kontext der Erweiterung von Diskriminierungspolitiken weiter voranzutreiben. Weil wir ja sehen, dass wir uns nicht mehr allein auf Frauen und Männer als homogene Gruppen konzentriert können, sondern wir haben eine Ausweitung von Diskriminierungstatbeständen. Die zentrale Frage ist nun, wie verhält sich die Kategorie Geschlecht zu ethnischer und sozialer Herkunft, zu Religion und Weltanschauung, zu Behinderung, Alter und sexueller Orientierung - zu den großen unterschiedlichen Diskriminierungstatbeständen? Dazu kommt rechtlich die Frage, wie das Verhältnis zu gewichten ist. Das ist ein umstrittenes Thema auch in der Frauen- und Geschlechterforschung, aber auch rechtlich relevant. Gibt es Hierarchieverhältnisse zwischen Diskriminierungstatbeständen? Das ist ein wichtiger Punkt: die Verschränkung von Diskriminierungstatbeständen stärker in den Blick zu nehmen und zu schauen, was das für politische und rechtliche Strategien bedeutet.
Könnte man nicht auch eine gemeinsame Strategie andenken?
G.A.: Die Strategien können zueinander auch im Konflikt stehen. Die Frage ist: Ist Geschlecht eine übergeordnete Kategorie und genießt sie einen besonderen Schutz? Wie geht sie mit anderen Kategorien zusammen? Da braucht man sicherlich eine Verfeinerung von Strategien, die aber zugleich vermeiden, Menschen auf bestimmte soziale Kriterien festzuschreiben und eine Form der Essentialisierung von sozialen Kategorien zu betreiben.
Vielen Dank für das Gespräch!